Die gerichtliche Geltendmachung von Kartellschadensersatz erlebt einen Aufschwung. Spektakuläre Kartellfälle der jüngeren Zeit, allen voran das LKW-Kartell, haben zahlreiche Betroffene in ganz Europa aktiviert, Schäden geltend zu machen. Dabei werden neben klassischen Prozessen für einzelne Geschädigte auch neue, kollektive Klagemodelle ausprobiert, in Deutschland etwa die Bündelung der Ansprüche zahlreicher Geschädigter in eigens für die Durchsetzung der Ansprüche geschaffenen Klagegesellschaften. So lassen sich auch die Ansprüche tausender Betroffener bündeln. Die Justiz ächzt bereits unter der Klageflut.
Vergleichsweise wenige Urteile zum Kartellschadensersatz gab es dabei in der Vergangenheit in Deutschland. Die Dogmatik von Kartellschadensersatzansprüchen wird gerade erst konturiert. Vieles ist noch unklar. Das Zusammenspiel nationaler Vorschriften zum Kartellschadensersatz und europäischer Vorgaben wird erst erprobt.
In diesem Kontext ist eine aktuelle Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes vom Dezember vergangenen Jahres zu sehen, die sich mit Beweiserleichterungen zu Gunsten Kartellgeschädigter beschäftigt hat (BGH, Urteil vom 11.12.2018, Az. KZR 26/ 17 - Schienenkartell). Zuvor hatten einige Instanzgerichte geurteilt, für Kartellgeschädigte stritten sogenannte Anscheinsbeweise mit Blick auf die Kartellbetroffenheit des Geschädigten und die ihm entstandenen Schäden. Anscheinsbeweise stellen Beweiserleichterungen dar. Liegt ein bestimmter Ausgangssachverhalt unbestritten oder unbestreitbar vor und setzt dieser Ausgangssachverhalt typischerweise bestimmte weitere Tatumstände voraus, können diese weiteren Tatumstände als gegeben erachtet werden, wenn sie typischerweise eintreten und die Typizität des Geschehensablaufs im konkreten Einzelfall nicht erschüttert wird. Beispielsweise wird bei einem Auffahrunfall angenommen, dass den auffahrenden Fahrer ein Verschulden trifft, weil als typisch angenommen wird, dass der auffahrende Fahrer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen hat.
Eine solche Typizität der Geschehensabläufe haben verschiedene Instanzgerichte bisher auch in Kartellschadensersatzkonstellationen angenommen. Sie gingen davon aus, dass der Geschädigte, der im sachlichen, zeitlichen und räumlichen Wirkungsbereich eines Kartells eine Ware oder Dienstleistung vom Kartellanten erworben hat, mit der kartellbedingten Wettbewerbsbeschränkung in Berührung gekommen sei. Auch gingen sie davon aus, dass dem so vom Kartell Betroffenen zumindest irgend ein Schaden aus dem Kartell entstanden sein müsse, da Kartelle typischerweise Preisüberhöhungen nach sich zögen. Diese Kasuistik hat die Geltendmachung von Kartellschadensersatzansprüchen für Geschädigte erleichtert.
Der Bundesgerichtshof ist in seiner Entscheidung vom Dezember 2018 dieser Rechtsprechung nicht gefolgt und hat der Anwendung von Anscheinsbeweisen – jedenfalls für Quoten- und Kundenschutzkartellen – eine Absage erteilt. Kartelle seien vielschichtig und individuell. Ihre Wirkungsweise sei keineswegs abstrakt bestimmbar und typisch für bestimmte Geschehensverläufe. Kartellen fehle es mithin schlicht an der für einen Anscheinsbeweis erforderlichen Typizität. Bei dieser Feststellung ist der BGH indes nicht stehen geblieben. Vielmehr erkennt er zu, dass nach einer entsprechenden Gesamtwürdigung aller relevanten Tatumstände durch den Tatrichter zumindest eine tatsächliche Vermutung für einen bestimmten Geschehensablauf sprechen könne, etwa für eine kartellbedingte Preisüberhöhung oder für die Kartellbetroffenheit des Anspruchsstellers, wenn er eine kartellierte Ware oder Dienstleistung bezogen hat.
Hat der BGH damit den Anscheinsbeweis nicht einfach als tatsächliche Vermutung verkleidet? Das wird man nicht bejahen können. Der BGH verlangt eine umfassende Würdigung der relevanten Tatumstände durch das erkennende Gericht. Die schlichte Reduktion der tatrichterlichen Beweiswürdigung auf Anscheinsbeweise verbietet sich damit. Findet indes eine Gesamtwürdigung der Tatumstände statt und spricht diese für einen bestimmten Geschehensablauf, auch wenn dieser nicht in allen Elementen vollständig geklärt werden kann, können etwaige Unsicherheiten zumindest durch tatsächliche Vermutungen beseitigt werden. Die Position Geschädigter im Kartellschadensersatz wird damit nicht fundamental geschwächt. Es bedarf aber des sorgfältigen Zusammentragens der maßgeblichen Tatumstände, um dem Gericht eine Gesamtwürdigung und damit auch den Zugang zu tatsächlichen Vermutungen zu ermöglichen.